Endlose Reihen Ramsch

https://www.perlentaucher.de/autor/andrzej-stasiuk.html

https://www.deutschlandfunk.de/auf-der-muellhalde-des-kontinents.700.de.html?dram:article_id=85341

Wenn ich aus dem Fenster blicke, fährt unten die uralte Straßenbahn durch den Schnee. Keine Ahnung, wann man diese Schienen verlegt hat, vermutlich unmittelbar nach dem Krieg. Die Häuser dort hinten bestehen aus unverputzten Ziegelsteinen. Ich habe gehört, dass die Studenten (und die Studentinnen) ihre Wohnheime selbst errichtet haben, um nicht in irgendwelchen Kellern zu übernachten. Wenn das heute erzählt wird, schwingt Stolz mit. Obwohl ich vielleicht einen Keller vorziehen würde, wenn ich mir das Leben dort hinter diesen Fenstern vorstelle. Das ist eine Frage des Charakters. Ich würde lieber im Dunkeln leben und den Raum mit Ratten und Büchern teilen, als mit drei anderen Mitbewohnerinnen, deren Privatspähre zwischen Kartoffeldunst und Fischgeruch zwischen den Wänden herumwabert.

Vor den Wohnheimen steht ein modernes Einkaufszentrum. In dessen Keller befindet sich die sogenannte „Oase“, ein katakombenartiger Verkaufsort für Kleidung, Wäsche, Schuhe und Ramsch. Vielleicht auch nur für Ramsch, wenn man genauer hinsieht, verblasst der Unterschied zwischen ausgemergeltem Plastikkitsch und Plastikschuhen, Plastikpistolen und Plastikjacken. Es gibt Kunden, die den Ramsch mit den Händen betasten, daran riechen, ihn im Licht der Neonlampen auf die Seite drehen. Vor den Pfeilern lehnen geduldige Verkäuferinnen am Beton und sortieren knallrote Büstenhalter. Sie lächeln dich an, wenn du Fragen hast. Sie nennen mich „meine Liebe“ und reduzieren den Ramsch in geradezu unfassbarer Weise, bis er eigentlich überhaupt nichts mehr kostet und endgültig wie ein Phantom wirkt.

Ich bin sicher, dass es die Straßenbahn und die unverputzten Wohnheime auch noch geben wird, wenn die Plastikverkleidung vom Einkaufszentrum nach und nach herabfällt. Sollte irgendwann jemand auf den Gedanken verfallen, dort Platz zu schaffen, wird es Schwierigkeiten bereiten. So eine Straßenbahn wehrt sich. Ich kann mir vorstellen, dass Marder und Tauben in die Wohnheimblöcke wandern, aber ich glaube nicht, dass sie einfach zusammenfallen. Die Ziegelsteinbauten der Römer stehen bis heute unübersehbar herum. Was geschieht mit den Plastikschuhen und mit den Büstenhaltern, wenn ihr erstes Leben, das vermutlich kurz ist, abläuft, und sie nur als Müll im Container landen?

Es ergibt sich das Paradox, dass die Objekte aus der sowjetischen Antikonsumzeit einen Charme entwickeln, mit dem ich niemals gerechnet hätte. Decken, unter denen man viele Jahre schläft, die später den Enkelkindern im Wald den Rücken wärmen und noch später auf dem Markt Erdbeeren oder sogar Orangen vor dem Erfrieren bewahren. Bis sie sich im Ende fast völlig zerfetzt als Putzlumpen in den Händen der gewalttätigen Toilettenfrau an der Medizinischen Universität Respekt erzwingen. Und selbst das ist wahrscheinlich nur ein Zwischenschritt vor der letztendlichen Auflösung: Krähen, Katzen, Ratten verbauen sie vermutlich erfolgreich in ihren Nestern. Der Ramsch verschwindet. Aber wohin? Der deutsche Plastikmüll reist nach Malaysia. Neuer Frischmüll kehrt zurück. Die Quote der Wiederverwertung beträgt bei strenger Berechnung unter zehn Prozent. Und hier? Schwimmen die Plastikschuhe mit den Eisschollen bis in die Fischgründe im Baikalsee?

http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/plastikmuell-deutschland-recycelt-nur-5-6-prozent-des-abfalls-a-1248715.html

https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/wirtschaft/deutscher-plastikmuell-verschmutzt-malaysia-e590969/

Ich fühle mich, als ob ich Andrzej Stasiuk als Plagiat kopiere. Ich bestaune die Zudecke aus der Burjatischen Fabrik, gefüllt mit Ziegenwolle, hergestellt für die Ewigkeit. In ihrer unfassbaren Zeitlosigkeit ist sie geradezu entwaffnend. Man schenkt sie einem Komsomolzen und ein Parteiveteran kann sie einem Pionierlager spenden. Goldgelber Stoff, ein wenig Luxus in der Farbgebung. Bettbezüge waren nicht unbedingt vorgesehen. Aber der Kontext ist weg, nichts davon ist erhalten. Die Bettdecke ist ein Artfakt aus einer untergegangenen Kultur. So wie auch die Stiefel aus Rentierfell (Untui) und die von Hand gehäkelten, schweren Tücher aus Kaschmir. Und selbst hier hat die Ramscherschaffung bereits begonnen, Duplikate in zweifelhafter Ausführung auf den Markt zu schwemmen. Wo früher die Großmütter drei oder vier Exemplare mit einer individuellen Geschichte verkauften, stehen heute Säcke an den Rückwänden der Verkaufsstände. Sie sind bis obenhin vollgestopft.

Ich habe versucht, zu fragen. Niemand weiß, wo dieses Zeug herkommt. Interessant ist, dass sie es hassen, wenn man fotografiert. Fast als wäre es ihnen ein Gräuel, wenn ich dem Ramsch auf diese Weise ein wenig Dauerhaftigkeit gewähre. Der Ramsch wird hergestellt, um zu verschwinden. Dies ist sein einziger Zweck, und nur deshalb wird er verkauft. Damit er Platz macht für neue Kisten und neue Säcke mit seinesgleichen. Auf dem Zentralmarkt in Irkutsk verliere ich den Realitätssinn: Sehe ich nur das gleiche wie Stasiuk oder verfolgen mich seine Texte als animierte Halluzination aus einem zunehmend bösartigen Programm, erstellt von einer Mannschaft ernsthaft erkrankter Programmierer?